Verschränkte Ganztagsschule: Informationen und Fakten
Das österreichische Halbtagsschulsystem hat sehr viele Nachteile. Für Kinder ist die Abwechslung zwischen Unterricht, Freizeit und Lerneinheiten am geeignetsten.
Wie kann ich mir eine ganztägige Schule in verschränkter Form vorstellen?
Die AK Niederösterreich sieht in der verschränkten Ganztagsschule die optimale Schulform um die Talente unserer Kinder bestmöglich zu fördern und gleichzeitig die Eltern, insbesondere die Mütter, zu entlasten. Bei der „echten“ Ganztagsschule wechseln einander Unterrichts-, Lern- und Freizeitphasen mehrmals im Laufe eines Tages ab. Aus organisatorischen Gründen müssen bei dieser Form alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse teilnehmen.
In einer verschränkten Ganztagsschule können alle Hausübungen und Schularbeitsvorbereitungen unter professioneller pädagogischer Aufsicht erledigt werden. Auch den modernen Familienmodellen und geänderten gesellschaftlichen Herausforderungen, wie etwa Sprachförderung oder soziales Lernen, kann besser Rechnung getragen werden. Außerdem bleibt Zeit für Erholung, gesundes Essen, Sport, Musik, Theater u.v.m.
Weiters senkt der Besuch einer Ganztagsschule laut internationalen Erfahrungen problematisches Verhalten bei den Jugendlichen und reduziert zugleich das Risiko für Klassenwiederholungen.
Worin liegt der Unterschied zur herkömmlichen Nachmittagsbetreuung?
Bei der klassischen Nachmittagsbetreuung wird der Schultag in der Regel dadurch verlängert, dass einige SchülerInnen einen Teil des Nachmittags unter Beaufsichtigung einer Lehrkraft oder Aufsichtsperson im Klassenraum verbringen und mit unterschiedlicher Qualität beim Hausaufgabenmachen und Lernen betreut werden. Der Fokus bei der schulischen Nachmittagsbetreuung liegt also stärker auf der Beaufsichtigung der SchülerInnen, von einer optimalen pädagogischen Betreuung kann hierbei nicht immer ausgegangen werden.
In einer verschränkten Ganztagsschule wechseln sich Unterricht, Lern-, Ruhe- und Freizeitphasen sinnvoll zwischen 08.00 und 16.00 Uhr ab. Dabei kann den nicht-unterrichtlichen Anteilen, also z.B. erzieherische und soziale Aufgaben, das Erlernen von Umgangsformen, mehr Bewegung (tägliche Turnstunde) und musisch-kreative Inhalte ausreichend Zeit und Raum gegeben werden.
Innovative Unterrichtsformen wie Projektunterricht, Stationenbetrieb und schülerzentriertes Lernen benötigen in der Regel mehr Zeit.
Weiters befinden sich SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache längere Zeit in einem Umfeld in dem definitiv Deutsch gesprochen wird und können sich v.a. bei den freizeitpädagogischen Aktivitäten sprachlich besser einbringen. Außerdem steht ausreichend Zeit zur Verfügung um gelegentlich und zeitlich begrenzt in Kleingruppen intensiv an der Deutsch-Kompetenz zu arbeiten.
Warum brauchen wir ganztägige Schulen?
Durch geänderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind die Herausforderungen an unsere Schulen in den letzten Jahren ständig gestiegen. Neben dem herkömmlichen Unterricht haben andere Aspekte wie z.B. soziales und emotionales Lernen, individuelle Lernunterstützung und ein sinnvolles Freizeitangebot maßgeblich an Bedeutung gewonnen. In einer zunehmends heterogenen Gesellschaft und in Zeiten in denen oftmals beide Elternteile einer Beschäftigung nachgehen, sind sowohl die Halbtagsschule als auch die klassische Nachmittagsbetreuung veraltet. Darüber hinaus sind viele SchülerInnen (und auch viele Eltern!) mit den täglichen Hausaufgaben überfordert. Jene Eltern, die es sich leisten können, unterstützen ihre Kinder mit bezahlter Nachhilfe. Für viele Familien ist dies jedoch nicht möglich. Schulische Probleme, Schulangst, Demotivation und ein belastetes Familienklima sind oftmals die Folge.
Schlussendlich wird einfach mehr Zeit benötigt um die SchülerInnen optimal in ihrer Individualität zu fördern. Während die Aufgaben an unsere Kinder in der Schule immer mehr werden (EDV, Fremdsprachen, Politische Bildung, Berufsorientierung, tägliche Turnstunde uvm.) gehen die Leistungen im internationalen Vergleich immer weiter zurück (vgl. PISA 2009: 28% der österreichischen SchülerInnen mit schweren Lesemängeln). Eine verschränkte Ganztagsschule, in der auf die biologische Leistungskurve der SchülerInnen Rücksicht genommen wird, bietet somit die optimalen Voraussetzungen und ausreichend Zeit für kognitives, soziales und emotionales Lernen
Wer soll die Ganztagsschule besuchen?
Die AK Niederösterreich setzt sich für eine verschränkte Ganztagsschule für alle Kinder bis zum Ende der Schulpflicht ein. Der Besuch muss kostenlos sein. An drei Tagen pro Woche soll der Besuch der Ganztagesbetreuung für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend sein. An den übrigen Tagen sollen Eltern, die dies wünschen, das Recht auf ein qualitativ-hochwertiges und kostenloses Betreuungsangebot am Nachmittag haben. Für jene SchülerInnen, deren Eltern dieses freiwillige Betreuungsangebot nicht in Anspruch nehmen wollen, endet die Schule an diesen beiden Tagen wie bisher gegen Mittag und sie haben den restlichen Tag zu ihrer Verfügung
Warum soll der Besuch an drei Tagen für alle Schüler verpflichtend sein?
Die Schule von heute schafft es nicht, alle Kinder gleich gut zu fördern. Von 100 Arbeiterkindern machen 14 Matura und 5 schaffen ein Studium. Von 100 Akademikerkindern machen 66 Matura und 41 schaffen ein Studium. Das bedeutet, dass Leistungen maßgeblich vom sozioökonomischen Hintergrund beeinflusst sind. Eine verpflichtende Ganztagsschule an zumindest drei Tagen pro Woche hätte positive Auswirkungen auf den kompensatorischen Effekt unseres Schulsystems. D.h., dass es unserer Schule viel besser gelingen würde, die sozialen Ungleichheiten auszugleichen.
Neben den pädagogischen Argumenten (individualisierte und zeitgemäße Unterrichtsformen mit mehr Zeit für Lernertragssicherung und nicht-unterrichtliche Inhalte etc.), sind es insbesondere soziale Aspekte, die für eine verschränkte und teilverpflichtende Form der Ganztagsschule sprechen.
Um im internationalen Vergleich nicht ins Hintertreffen zu geraten ist es wichtig, alle Talente gleichermaßen zu fördern – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Bei freier Wahlmöglichkeit besteht die große Gefahr, dass jene Eltern sich für die kostengünstigere Halbtagsschule entscheiden, deren Kinder die umfassende Unterstützung einer Ganztagsschule benötigen.
Eine kostenpflichtige Nachmittagsbetreuung würde somit exakt jene Kinder aus sozial schwächeren Familien ausschließen, die sich diese nicht leisten können. Speziell Kinder aus Familien mit migrantischem Hintergrund, die ihre Kinder unter Umständen aus kulturellen Gründen nicht in eine Ganztagsschule schicken würden, besteht die Gefahr einer gesellschaftlichen Ausgrenzung im späteren Leben, wenn nicht bereits in der Schule die optimalen Bedingungen für einen nachhaltigen Integrationsprozess vorhanden sind.
Schließlich besteht derzeit das beträchtliche Problem, dass eine Nachmittagsbetreuung erst ab einer Mindestanzahl von 10 angemeldeten SchülerInnen zustande kommt.
Wenn sich nicht ausreichend viele SchülerInnen finden, sind Familien mit Bedarf an Nachmittagsbetreuung auf außerschulische, also meist kostenpflichtige, Angebote angewiesen.
Übrigens: Auch im AK Niederösterreich-Modell der verschränkten Ganztagsschule verbringen Kinder immer noch 2/3 der Zeit, in der sie nicht schlafen, außerhalb der Schule.
Wie viel kostet die Umstellung auf ganztägige Schulen?
Um eine echte verschränkte Ganztagsschule in Österreich zu realisieren, braucht es vor allem bauliche Adaptierungen an den Schulgebäuden und zusätzliche Lehr- und Betreuungskräfte. Diese Kosten ammortisieren sich jedoch nach 5 Jahren bereits wieder durch den Effekt aus Baumaßnahmen, den Abgaben der neu beschäftigten Lehr- und Betreuungskräfte und wegen der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf der neu beschäftigten Elternteile (v.a. Mütter).
Gibt es die Ganztagsschule auch in anderen Ländern?
Ja. Österreich ist, neben Deutschland und Griechenland, sogar das einzige Land in Europa, das nach wie vor an einer Halbtagsschule festhält.
Was muss parallel zur Umstellung auf eine Ganztagsschule geschehen?
Es braucht vorallem bauliche Adaptierungen an den Schulstandorten. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler müssen sich in einer lernfreundlichen Atmosphäre wohl fühlen, sondern auch die Lehrkäfte benötigen einen adäquaten Arbeitsplatz mit der notwendigen Ausstattung an Computerarbeitsplätzen, Besprechungs- und Rückzugsräumen. Um ein umfassendes und sinnvolles Freizeitangebot zu schaffen, müssen einerseits die räumlichen Rahmenbedingungen wie Sportplätze, Bibliotheken, PC-Lernräume etc. geschaffen werden und andererseits ausreichend Lehr- und Betreuungskräften vorhanden sein, die imstande sind, die individuellen Stärken der SchülerInnen durch ein ausgewogenes Lern- und Freizeitangebot zu fördern.
Ein wesentlicher Bestandteil der verschränkten Ganztagsschule ist es, den SchülerInnen eine qualitativ hochwertige warme Mittagsmahlzeit zukommen zu lassen. Die dafür nötigen baulichen Voraussetzungen (Küche, Speisesaal etc.) sind ebenso notwendig wie die Existenz räumlicher Rückzugsmöglichkeiten für SchülerInnen und LehrerInnen.
Schlussendlich ist die Vernetzung und Kooperation mit außerschulischen Partnerorganisationen zu forcieren. Um ein breites Spektrum an freizeitpädagogischen Aktivitäten anbieten zu können, ist die Zusammenarbeit mit Sportvereinen, Musikschulen, sozialen Einrichtungen und vielem mehr aktiv und offensiv zu gestalten.